Wie mein Ururururgroßonkel 1812 die Beresina überlebte

Die Russinnen fand er hässlich – wie uncharmant! Aber der junge deutsche Offizier konnte sich glücklich schätzen, dass er vor 200 Jahren mit Napoleon überhaupt lebend aus Russland zurückgekehrt ist.

Mehr als eine halbe Million Soldaten zählte die Grande Armée, mit der Napoleon I. im Juni 1812 Russland angriff. Und nur eine Handvoll von ihnen kehrte im Winter vor 200 Jahren aus dem militärischen Desaster zurück –  vertrieben von den Russen, die unter großen eigenen Opfern in ihrem Vaterländischen Krieg gesiegt hatten. Sinnbild des Untergangs ist bis heute der Übergang über die Beresina am 14.-16. November (26.-28. November neuen Stils) 1812.

Nicht nur Franzosen waren gen Osten marschiert, auch viele Staaten hatten dem Franzosenkaiser Truppen stellen müssen. Dazu zählte das neu entstandene Königreich Westfalen, in dem Napoleons Bruder Jérôme herrschte. In westfälischen Diensten war der Hauptmann Theodor Philipp Wilhelm von Papet aus Braunschweig in den verhängnisvollen Russlandfeldzug geraten.

Um gleich die Familienverhältnisse klarzustellen: Von Papet war mein Ururururgroßonkel. Schon sein Vater Friedrich Julius von Papet war Offizier gewesen und hatte im Nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft. Also ging auch Theodor, geboren 1791 in Maastricht, zum Militär.

1812 war er noch ein junger Kerl. Er diente – um militärisch genau zu sein – im 2. Bataillon des 3. Linieninfanterieregiments des Königreichs Westfalen. Kurz vor seinem 21. Geburtstag, als sein Regiment schon durch Polen marschierte, wurde der junge Offizier zum „Capitain“ (Hauptmann) befördert und erhielt das Kommando über die 2. Voltigeurkompanie (leichte Schützen).

Von Papet hat auf dem Russlandfeldzug ein Tagebuch geführt, das als Abschrift bis heute in der Familie kursiert. (Wissenschaftlich habe ich diese und andere Aufzeichnungen  deutscher Feldzugsteilnehmer hier schon einmal verarbeitet.) Meist sind die Notizen des Hauptmanns knapp gehalten, es geht um Militärisches: Wie lange wurde marschiert, welche Strecke, welche Befehle wurden erteilt?

Aber was Napoleon mit dem Krieg gegen das Zarenreich erreichen wollte, was er als junger Mann selbst in dem fremden Land verloren hatte – darauf verschwendete Theodor zumindest schriftlich keinen Gedanken.

Immerhin war er ein wacher Beobachter. An Rasttagen beschrieb er, was ihm in dem unbekannten Land auffiel: die Schaukeln zur Volksbelustigung vor russischen Wirtshäusern, wie die Öfen in den Bauernhütten funktionierten, wie die Russen Wolfsgruben anlegen oder Kwas herstellen.

Der Jüngling leistete sich aber auch eine gänzlich uncharmante Bemerkung über die russischen Frauen:

„Die Frauenzimmer sind meisten hässlich, suchen sich aber durch bunte Kleider  zu erheben. Ihre Beine sind dick umwickelt, welches ihnen ein unförmliches Ansehen gibt.“

Von Papet nahm an der verlustreichen Schlacht von Borodino teil, die beide Seiten bis heute als Sieg deuten. Die Standfestigkeit der russischen Infanterie nötigte ihren Gegnern Bewunderung ab. Zur russischen Reiterei schrieb von Papet dagegen verächtlich:

„Von ihrer Kavallerie spricht man nicht sehr vorteilhaft, denn man sagt, sie wären besoffen ins Feld gegangen.“

Das Gemetzel von Borodino öffnete der dezimierten Grande Armée den Weg nach Moskau. Die Schönheit der alten Zarenstadt erregte Bewunderung bei denen, die sei erreichten. Von Papet schrieb am 16. September:

„So lag die Stadt mit ihrer Menge Türmen, meistenteils mit vergoldeten Kuppeln verziert, ausgebreitet vor unseren Blicken. (…) Sie ist ein Quodlibet von Palästen und ärmlichen Hütten, die wie Goliath neben David zwischen einander stehen.“

Doch militärisch nutzte die Eroberung nichts, bald brannte Moskau, und die Eindringlinge mussten kehrt machen. Der ruhmlose Rückzug begann, ein ständiger Kampf gegen die nachsetzenden Russen, gegen den Hunger und gegen eine extreme Kälte, die „alle menschlichen Begriffe überstieg“, wie von Papet notierte.

Den Tiefpunkt erlitt Napoleons geschlagene Armee, als sie bei Studjanka im Weißrussischen über das Flüsschen Beresina setzen musste. Unter ständigen russischen Angriffen drängten die Soldaten panisch in Richtung der Behelfsbrücken über das Treibeis führende Wasser.

Von Papet rekapituliert die erschütternden Szenen ziemlich nüchtern:

„Durch die viele Passage der Pferde war der vor der Brücke befindliche Morast beinahe aufgetäut, sodaß die meisten Pferde hier einsanken, die dann durch die Anstrengungen, sich emporzuarbeiten, mehrere Menschen umwarfen, die, da von allen Seiten gedrängt wurde, meistenteils verloren waren. So mußte man also, um nach der Brücke zu gelangen, von einem Pferd aufs andere springen. Wer ausglitschte und unter ein Pferd zu liegen kam, wurde von den Nachfolgenden zertreten.

Wer unglücklicherweise die Brücke verfehlte, denn da man, in den Haufen eingepreßt, nicht wissen konnte, in welcher Direction dieselbe lag, und sich also vom Ohngefähr leiten lassen mußte, da der Fluß nicht zugefroren war und Hülfe unmöglich, ertrinken.

Auf der Brücke selbst war die Gefahr nicht groß. Ich war so glücklich, diese Brücke, welche so vielen das Leben kostete, nachmittags 4 Uhr hinter mir zu haben. Das diesseitige Ufer ist mit Holz besetzt.“

Anderen Augenzeugen erschien das Geschehen an dem weißrussischen Flüsschen als metaphysisches Ereignis. Sie verglichen die Soldaten mit den unglücklichen Schatten der griechischen Mythologie, die in der Unterwelt an den Ufern des Styx umherirren, um den Nachen der Fährmanns zu erwarten.

Ein Gottesgericht – so deuteten viele die Katastrophe. Es war die Erfahrung einer Vernichtung, die menschliches Verstehen übersteigt.

In Vilnius verließ Feldherr Napoleon am 5. Dezember 1812 die Reste seiner geschlagenen Armee. Nur noch wenige zehntausend Mann schleppten sich gen Westen heim.

Theodor von Papet erreichte am 20. Januar 1813 seinen Wohnort Braunschweig. Doch der Hauptmann beließ es nicht damit, das Schicksal einmal herausgefordert zu haben. Weil das Königreich Westfalen von Napoleons Gnaden zusammenbrach, trat er in die Dienste des Königreichs von Großbritannien und Hannover.

Er kämpfte in der Schlacht von Waterloo 1815, wurde verwundet und starb 1818 an den Spätfolgen.

Über friedemannkohler

Journalist in Bremen, interessiert an ganz Mittel- und Osteuropa. Kontakt: kohler.friedemann(at)outlook.com
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2 Antworten zu Wie mein Ururururgroßonkel 1812 die Beresina überlebte

  1. Taco Tichelaar schreibt:

    Wissenschaftlich habe ich diese und andere Aufzeichnungen deutscher Feldzugsteilnehmer hier schon einmal verarbeitet. Der Link geht nicht.

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