Das Rätsel der Weltkriegs-Landkarte

Wenn Papier doch seine Geschichte erzählen könnte! Dieses Kartenblatt hat zweimal die Fronten überquert.

(English summary below)

Diesmal geht es nicht um einen Zufallsfund im Antiquariat, sondern um eine Landkarte aus dem Nachlass meines Großvaters (1897-1996). Er war im Zweiten Weltkrieg zu alt, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden, aber die Militärkarte stammt aus jener Zeit. Das Blatt im Maßstab 1 : 40 000 zeigt einen Ausschnitt dem besetzten Süden Belgiens. Am oberen Rand liegt das belgische Dorf Roison, südlich beginnt schon Frankreich. Die nächsten größeren Städte außerhalb des Kartenblatts sind Mons in Belgien und Cambrai in Frankreich.

Wehrmachtskarte Roisin (Belgien) 1941

Wehrmachtskarte Roisin (Belgien) 1941

Hergestellt wurde die Karte im Auftrag des Gen. St. d. H. Abteilung für Kr. Karten u. Verm. Wesen II, (Generalstab des Heeres, Abteilung für Kriegskarten (?) und Vermessungswesen II). Zur Datierung: 2. Sonderausgabe VII 1941.Zu jener Zeit lief im Osten der Angriff auf die Sowjetunion, im Westen Europas war es vergleichsweise ruhig. Die Briten saßen jenseits des Kanals.

Eine unspektakuläre Generalstabskarte „Nur für den Dienstgebrauch“ also – wären nicht blaue Streifen und das englische Wort „cancelled“ (aufgehoben) quer über die Karte gedruckt.

Mitten im Krieg muss das Papier auf die andere Seite der Front gelangt sein.

Auf der Rückseite findet sich nämlich eine andere Karte – erstellt vom britischen Militär. Als Impressum: „Geographical Section, General Staff. Published by War Office. 1943“.

Britische Militärkarte des General Staff 1944

Britische Militärkarte des General Staff 1944

Zu sehen sind Hamburg, Bremen und das Elbe-Weser-Dreieck. In Rot eingezeichnet ist die politisch-territoriale Gliederung Nazi-Deutschlands – es geht um alte Länder und neue Reichsgaue, um Regierungsbezirke und Landkreise, um die Gaue der NSDAP und Luftgaue der deutschen Luftwaffe.

Als Quellen nutzten die britischen Kartographen u.a. deutsche Straßenkarten von 1938 und 1939, eine deutsche Eisenbahnkarte von 1935, aber auch „Intelligence Reports“ von 1942. Wozu diente eine solche Karte im Maßstab 1 : 250 000? Wohl nicht zur militärischen Planung, eher zur politischen Orientierung einer Armee, die in einem fremden Land auf dem Vormarsch ist.

Doch wie kommen die beiden Militärkarten auf Vorder- und Rückseite eines Blattes? Wenn das Papier doch nur mehr erzählen könnte!

War Office in London

War Office in London

Vermutlich passierte Folgendes: Als die Wehrmacht 1944 nach der Landung der Alliierten in der Normandie aus Nordfrankreich vertrieben wurde, blieben solche Karten zuhauf liegen. Sie fielen in die Hände der vorrückenden Briten. Auch in London dürfte zu Kriegszeiten gutes Papier knapp gewesen sein, also druckte das War Office seine Landkarten kurzerhand auf die Rückseite des Beuteguts. Das Format der Nazi-Karte wurde angepasst und links und rechts einfach beschnitten.

Das muss irgendwann im Herbst 1944 geschehen sein. Zwar stammen die geographischen Umrisse der britischen Karte von 1943, die politisch-territoriale Aufteilung im Deutschen Reich ist jedoch auf dem Stand vom 1. Mai 1944. Und dann nahm irgendein britischer Offizier, irgendein Stab die Karte mit auf den finalen Feldzug gegen Hitlers Wehrmacht. Bis Anfang Mai 1945 wurden die dargestellten Gebiete erobert – Bremen am 26. April, Hamburg am 3. Mai. Am 8. Mai war der Krieg endlich vorbei. Die Karte hatte ausgedient. Die Verwaltungsgrenzen in Deutschland wurden neu gezogen.

Die britische Karte von nahem

Die britische Karte von nahem

Und der zweite Frontwechsel? Wie die Doppelkarte von der britischen Armee wieder in deutsche Hände kam, weiß ich nicht. Vielleicht blieb sie Monate oder Jahre nach Kriegsende wieder einmal beim Abzug liegen, vielleicht tauschte ein Deutscher sie als Kuriosität bei den Briten ein. Mein Großvater kann es nicht mehr erzählen.

Eine Seltenheit dürfte dies Zeugnis des Zweiten Weltkriegs sein. Der schematische Aufdruck „cancelled“ legt zwar nahe, dass noch viel mehr Landkarten umgedruckt wurden. Doch Hinweise auf andere derartige Karten habe ich noch nicht gefunden.

... und beide Karten auf einem Blatt

… und beide Karten auf einem Blatt

(To give a short summary: My grandfather left me a WW2 military map. It was issued by the German Wehrmacht’s General Staff in July 1941 and shows the Southern tip of occupied Belgium. But this frontpage has been overprinted with the word ‚cancelled‘. On the backside there is a British military map, issued by the War Office in London. It shows the administrative borders of the Hamburg area as drawn by the Nazis in May 1944.

Has anybody come across similar doublesided maps and knows their history?

My theory is that Wehrmacht maps were seized by British forces moving through Northern France and Belgium after D-Day 1944. Good paper may have been scarce in wartime London, so the Britsh army cartographers used the enemy maps to print their own.

Afterwards British troops must have brought this map back to Germany. But I don’t know how it ended up in my family.)

Über friedemannkohler

Journalist in Bremen, interessiert an ganz Mittel- und Osteuropa. Kontakt: kohler.friedemann(at)outlook.com
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3 Antworten zu Das Rätsel der Weltkriegs-Landkarte

  1. Mathias Schaefer schreibt:

    in der Tat eine bemerkenswerte Geschichte

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  2. Andreas schreibt:

    Habe beim aufräumen des Dachbodens auch so eine Karte gefunden. Deutsche Seite zeigt Stonehaven in Schottland, die englische Winschoten in Holland. Wieso das in Hannover lagert ist mir unklar.

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    • friedemannkohler schreibt:

      Hallo Andreas,
      danke für die Nachricht! Hat jemand aus Deiner Familie nach dem Krieg für die britische Besatzungsmacht gearbeitet? So war das bei meiner Karte, mein Großvater lebte bei Nienburg an der Weser.

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