Fünf kluge Gedanken über die Ukraine

Die Ukraine ist von innen und außen bedroht. Lehren aus einem Sammelband: Was kann Europas zweitgrößtem Land helfen?

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Selten war ein Buch so aktuell, selten war es so schnell überholt. Der Sammelband „Majdan!“ (edition.fotoTAPETA Berlin) erschien Mitte März. Mehr als 30 ukrainische und internationale Autoren beschreiben darin, wie sie den Euromajdan sehen – die Dauerdemonstration auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz für eine Annäherung an Europa und gegen das autoritäre Regime von Präsident Viktor Janukowitsch. Zeitlich reichen die Artikel, Essays und Reportagen bis Mitte Februar: Die ersten tödlichen Schüsse in Kiew waren gefallen, aber die katastrophale Eskalation der Gewalt am 21. Februar war noch nicht absehbar.

Seitdem hat sich die Lage rasend schnell verändert. „Die Geschichte wird in der Ukraine Stunde um Stunde vor Ort geschrieben“, heißt es im Beitrag des britischen Historikers Timothy Garton Ash. Auf den unerwarteten Sieg, die Flucht des verhassten Janukowitsch folgte der große Schrecken: Russland verleibte sich die Krim ein. Die schwache Übergangsregierung muss hilflos zusehen, wie ukrainische Soldaten auf der Halbinsel erst belagert, dann vertrieben werden. Rechtsextreme Kräfte sind in die neue Führung eingezogen. Im Osten der Ukraine schürt Russland separatistische Stimmungen, um eventuell einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen zu bekommen. Ein neuer kalter Krieg hat begonnen.

Hat sich damit das Buch mit seinem Jubel über den Majdan erledigt? Ich habe aus den Beiträgen fünf Überlegungen herausgesucht, die über den Tag hinausreichen und für die Ukraine jetzt und in Zukunft wichtig sein könnten.

1. Der Majdan war ein zivilgesellschaftlicher Durchbruch für die Ukraine

Bei aller Kritik gerade an der Rolle rechter Kräfte in den Protesten stimmt doch die Einschätzung der grünen Europa-Abgeordneten Rebecca Harms: Der Euromajdan war die stärkste Bürgerrechtsbewegung auf diesem Kontinent seit 1989.

„Es ist ein Aufstand gegen Ungerechtigkeit, Korruption, fehlende Rechtsstaatlichkeit und gegen die Verletzung der Menschenwürde.“ (Maria Matios, Schriftstellerin und Abgeordnete)

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„Ich halte für die wichtigste Errungenschaft des Majdan, dass die Menschen in der Ukraine gelernt haben, für ihre Rechte einzustehen, dass die Menschen aus den verschiedensten Sphären der Gesellschaft verstanden haben, dass die Einstellung, die noch aus der Sowjetzeit stammt, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist und wir uns die Hände nicht schmutzig machen wollen, uns auch der realen Chance beraubt, Einfluss zu nehmen, und dass das nicht so bleiben kann.“ (Halyna Kruk, Lyrikerin)

2. Die Ukraine muss Rücksicht auf ihre Fragilität nehmen

„Die Spannungen, sowohl psychologische wie geografische, zwischen Ost und West sind in der nationalen Identität der Ukraine tief verwurzelt. Die Ukrainer, die um die Zukunft ihres Landes am meisten besorgt sind, würden gut daran tun, die Zerbrechlichkeit dieser Identität anzuerkennen.“ (Orlando Figes, Historiker)

Ein Beispiel bringt der Historiker Andrij Portnov: In der parlamentarischen Opposition (und mittlerweile stellt sie die Regierung!) gebe es keine Kraft, die versucht, die russischsprachige Wählerschaft im Osten und Süden des Landes anzusprechen und zu gewinnen.

3. Im Wunsch nach Unabhängigkeit ist die Ukraine einiger als gedacht

„Seit 20 Jahren führen wir vergleichende Untersuchungen zu Lviv und Donezk durch. Das sind die Städte, die die beiden politisch entgegengesetzten Regionen in der Ukraine repräsentieren. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede zwischen den beiden Städten dramatisch sind, aber nicht tragisch. Trotz starker Unterschiede verbindet beide Städte der Wunsch, in einem Land zu leben. Seit Beginn der 1990er Jahre gibt es in der Ukraine Meinungsumfragen, in denen unter anderem folgendes erfragt wird: Wenn das Referendum vom 1. Dezember 1991 über die Unabhängigkeit der Ukraine heute wiederholt werden würde, würde das Ergebnis gleich ausfallen? Seit jener Zeit hat es bis zum heutigen Tag kein einziges Jahr und keinen einzigen Monat gegeben, in dem die Mehrzahl der Ukrainer die Idee der nationalen Unabhängigkeit abgelehnt hätte.“ (Yaroslav Hrtsyak, Historiker)

Hoffnung macht Hrytsyak auch, dass sich die ukrainische Jugend in Ost und West in ihren an Europa ausgerichteten Werten sehr ähnlich sei.

4. Europa muss sich in der Ukraine einmischen

„Am Euromajdan wird nicht allein das Schicksal der Ukraine entschieden. Dort geht es um Europa. Um die Seele Europas, das nicht an der Schengengrenze endet.“ (Martin Pollack, Übersetzer)

„Egal, was die kommenden Monate bringen werden, die Lage in der Ukraine bleibt eine der grundlegenden Herausforderungen für die internationale Politik. Und das Schicksal eines großen europäischen Staates außerhalb der Europäischen Union darf letzterer nicht egal sein.“ (Andrij Portnov, Historiker)

5. Die Ukraine braucht eine europäische Zukunft

2015 zum 70. Jahrestag der Konferenz von Jalta solle die Ukraine ein halbwegs funktionierender Staat sein – das wünscht ihr Timothy Garton Ash. Sie solle die Assoziierung mit der EU unterschrieben haben. Dieser Wunsch ist erfüllt. Doch von gleichzeitigen engen Beziehungen zu Russland, wie er sie erhofft, wird wegen der Krim in Jahresfrist keine Rede sein können. Doch das entwertet nicht Garton Ashs langfristige Vision:

„Im Februar 2045, zum 100. Jahrestag der Konferenz von Jalta, sollte die Ukraine ein liberales, demokratisches, rechtsstaatliches Land sein, das zwar Mitglied der EU ist, aber eine besondere Beziehung zu Russland hat. (…) Das ist jedenfalls das Ziel, das wir uns vornehmen sollten.“

Majdan! Ukraine.Europa, herausgegeben von Claudia Dathe und Andreas Rostek, Übersetzt durch translit e.V. und andere, edition.fotoTAPETA_Flugschrift Berlin 2014, 160 S., ISBN 978-3-940524-28-7, 9,90 Euro

Texte von
Anastasija Afanasjewa | Juri Andruchowytsch | Yevgenia Belorusets | Elmar Brok | Roman Dubasevych | Kai Ehlers | Orlando Figes | Jörg Forbrig | Timothy Garton Ash | Rebecca Harms | Yaroslaw Hrytsak | Tamara Hundorowa | Olexandr Irwanez | Halyna Kruk | Wolodymyr Kulyk | Andrij Ljubka | Maria Matios | Adam Michnik | Switlana Oleschko | Martin Pollack | Andrij Portnov | Taras Prochasko | Roman Rak | Mykola Rjabtschuk | Konrad Schuller | Ostap Slyvynsky | Natalka Sniadanko | Timothy Snyder | Olexandr Stukalo | Natalia Yeryomenko | Serhij Zhadan

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Über friedemannkohler

Journalist in Bremen, interessiert an ganz Mittel- und Osteuropa. Kontakt: kohler.friedemann(at)outlook.com
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